19120000_ltb00431911_Bericht_Landesausschussreferent_wirtschaftliche_Lage_Stickerinnen

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Letzte Änderung 04.07.2021, 22:09
Gemeinde Landtag
Bereich oeffentlich
Schlagworte: ltm_,ltp10,ltb0,lt1911,ltb1911
Dokumentdatum 2021-07-04
Erscheinungsdatum 2021-07-04
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43. Beilage zu den stenogr. Berichten des Vorarlberger Landtages. IV. Session der 10. Periode 1911/12. Beilage 43. Die wirtschaftliche Lage der Stickerinnen des Landes Vorarlberg. Bericht des Landesausschußreferenten Pros. Dr. Karl Drexel. Der Landtag hat im Jahre 1910 sich auch mit der Lage der Stickerinnen beschäftigt, und im Sinne der damaligen Beschlüsse hat der Landesausschuß seinem Referenten für Stickereiangelegenheiten den Auftrag gegeben, diesbezügliche Erhebungen zu pflegen und darüber Bericht zu erstatten. Der Referent hat diesem Auftrage entsprochen und bringt hierüber folgenden Bericht. Allgemeines. Vorarlberg hat seit langem Hausindustrie; seine geographischen, volkswirtschaftlichen und volkstümlichen Verhältnisse sind ihr günstig und manche besondere Tugend des Vorarlberger Volkes und manche schöne Volksart hängt mit der Hausindustrie enge zusammen; und während in den meisten anderen Ländern der Begriff Hausindustrie mit größter Armut eng verbunden ist, so trifft hier zu Lande fast eher das Gegenteil zu. Die Hausindustrie ist volkswirtschaftlich durchschnittlich besser situiert als etwa z. B. der Fabriksarbeiter. Das kommt daher, weil unser Volk frühzeitig nur solche Hausindustrien aufnahm, die nicht alltäglich waren, die Qualität erforderten, Fleiß, Talent und Rührigkeit voraussetzten und einen befriedigenden Lohn anboten. Das Land wählte die Stickerei in allen möglichen Formen. Die große Schiffchen­ maschine und die mühsamere Handmaschine für die Männer, die kleineren Maschinen und die reine Handarbeit für die Frauen und Mädchen. Dem einen Teil dieser Hausindustrie hat das Land neben anderen Faktoren in ganz vorzüglicher Weise seine Aufmerksamkeit geschenkt und es handelt sich nun darum, auch dem anderen Teil, der Frauenarbeit in der Stickerei, die entsprechende Berücksichtigung und Unterstützung zu widmen, umsomehr als dieser Zweig sehr viele Kräfte beschäftigt, zur Zeit sehr zurück geht, ungeordnete Verhältnisse hat und in seiner bisherigen Entwicklung ganz sich selbst und dem Schicksale überlassen war. Es sei daher gleich im voraus bemerkt, daß es Absicht des Referenten ist, sowohl dem hohen Landtage als auch der k. k. Regierung eine tatkräftige Unterstützung zu empfehlen. 279 43. Beilage zu den stenogr. Berichten des Vorarlberger Landtages. IV. Session der 10. Periode 1911/12. Arbeitsarten und Arbeitskräfte. Vorherrschend ist der Kettenstich und zwar in der Hauptsache mit Maschinen (Cornelpvulgo Parisermaschine); ihr voraus ging die Arbeit am Stickstock, die heute noch für einzelne Artikel verwendet wird und die wir bei älteren Leuten treffen, welche ihn nie verließen. Jugendliche Arbeitskräfte wählen durchschnittlich die Kettenstichmaschine. Die Arbeit an dieser ist anstrengend und besonders für jüngere Mädchen nicht ohne bedenklichen Einfluß auf die Gesundheit. Während die Füße die Maschine treten, sind beide Hände und besonders die Augen sehr stark in Anspruch genommen und dies umsomehr, wenn man möglichst große Leistung im Tage fertig bringen will, was bei schlechten Löhnen umso häufiger natürlich der Fall ist. Ein Arzt, welcher diese Verhältnisse gut kennt, sagt, daß eine Reihe sehr bedauerlicher Erscheinungen der zu frühzeitigen Überanstrengung an der Kettenstichmaschine zuzuschreiben sind. Lungentuberkulose, sehr starke Bleichsucht, Magenleiden, schlechte Körperhaltung, teilweise ein Zurückbleiben der körperlichen Entwicklung, Augenleiden und Kurzsichtigkeit sind Folgen der Überanstrengung an dieser Maschine. Unter dieser Gruppe der Stickerinnen gibt es viele Stufen bezüglich Qualität, solche die nur grobe Arbeit liefern, andere mittlere, wieder andere bessere und ein Teil, freilich der kleinere, der die feinsten Aufgaben tadellos löst und zu den bestqualifizierten Arbeitskräften gehört, die überhaupt existieren. Neben dieser Maschine treffen wir dann die Schiffchen­ nähmaschine, sie wird hauptsächlich verwendet zum Nachsticken der Maschinenstickereiware, dann aber auch für Lorain- und Kunststicken. Zu den einfacheren Hilfsarbeiten gehört das Spachteln, welches Kinder und alte Frauen meistens besorgen, daneben das Ausschneiden, Festonieren u. s. w. Die eigentliche Kunststickerei mit Hand und Nadel hat im Bregenzerwald noch einige tüchtige Vertreterinnen, die ganz aus eigenem es zu vorzüglichen Leistungen gebracht haben; doch ist dieser Zweig sichtlich gegen früher zurückgegangen und ist heute nur mehr insoweit erwähnenswert beschäftigt, als die heimischen Trachten ein Absatzgebiet bilden. Wie bemerkt, treffen wir unter den Arbeitskräften jedes Alter vom Mädchen bis zur Greisin. Die einen betrachten die Stickerei als Hauptberuf, die anderen als Neben­ erwerb. Im Bregenzerwald, wo diese Industrie weitaus am stärksten vertreten ist, wo auch weitaus die besten Arbeitskräfte zu finden sind, treffen wir viele Arbeiterinnen, welche die Stickerei als tägliche Arbeit voll beschäftigt. Höchstens, daß einige Wochen unterbrochen werden, um das Heu heimzubringen. In anderen Gegenden, insbesondere Montafon, liegt es eher wieder anders. Dort wird die Stickerei mehr als Nebenerwerb aufgefaßt und die Stickerinnen sind in der Minderheit, welche Tag für Tag die volle Stundenzahl zu erreichen suchen. Als fast selbstverständlich findet man tüchtige Arbeitskräfte und halbwegs geordnete Lohn- und Arbeitsverhältnisse nur dort, wo alle verfügbare Zeit dieser Hausindustrie gewidmet wird. Ganz vereinzelt treffen wir auch Männer als tüchtige Ketten st icker beschäftigt. Mit der maschinellen Kettenstichstickerei dürften etwa 3000 Arbeiterinnen beschäftigt sein, dazu etwa 1000 Personen mit Spachteln und anderen Hilfsarten. Mit NachstiLen dürften schätzungsweise 2800 Frauen sich beschäftigen, überall dort vor allem, wo Maschinenstickerei hausindustriell betrieben wird, also vor allem in den Rheintalgemeinden. 280 43. Beilage zu den stenogr. Berichten des Vorarlberger Landtages. IV. Session der 10. Periode 1911/12. Im allgemeinen ist Mangel an geübten Arbeitskräften. Feinere Stickereien verlangen sehr tüchtige Arbeiterinnen und besonders die Verweberinnen brauchen ebenso eine feine Hand und gute Augen wie die beste Kunststickerin. Ihre Arbeit muß mit der Hand gemacht werden und sollen wertvollere Stoffe und Stickereien, ivelche Risse oder Gewebefehler haben, so ausgebessert oder verwebt werden, daß das gewöhnliche Auge die Korrektur nicht beobachtet, so ist damit gesagt, wie schwer ihre Aufgabe ist. Fabriksbetriebe geben Nachstickware teilweise in die Hausindustrie, haben aber meist auch eine eigene Nachstickabteilung. Fabrikanten beklagen den Mangel an üchtigen Verweberinnen, deren Zahl mit den Kunststickerinnen zurückgegangen sein dürfte, twas sich dadurch erklärt, daß eben großer Andrang an gewöhnlicher Nachstickarbeit mit dem Wachsen der Maschinenstickerei eintrat und das mühsame Verweben im Vergleich zum leichteren Maschinennachsticken nicht entsprechend besser bezahlt wurde. Ähnlich ging es mit dem Nachsticken der Handmaschinenware, das früher noch mehr mit der Hand erfolgte, während heute vielfach auch dieser Artikel mit der Maschine nachgestickt wird, nickt zum Vorteile des Produktes und häusig eine Ursache von Abzügen auf Rechnung des Stickers. Versorgung mit Arbeit. Die Einführung der verschiedenen Stickereimaschinen hängt mit dem St. Galler Markte zusammen; es wird wenige Beispiele in der Volkswirtschaft geben, daß zwischen zwei Grenz­ gebieten so innige volkswirtschaftliche Beziehungen entstanden sind. St. Gallen hat ja heute noch den Charakter eines Weltplatzes und zweierlei Interessen trafen sich hier: der Vorarlberger suchte gut entlohnte Arbeit und fand sie vor Jahrzehnten in der nach den damaligen Verhältnissen sehr gut situierten, aufblühenden Industrie; der Schweizer Unternehmer dagegen suchte für den rasch wachsenden Markt eine fleißige, talentierte Arbeitskraft und fand sie in Vorarlberg. Land und Leute in Vorarlberg und dem Kanton St. Gallen haben vielerlei Ähnlichkeiten und Beziehungen und so ist es zu erklären, daß in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhundertes diese ursprüngliche Schweizerindustrie nicht nach anderen Kantonen, sondern nach Vorarlberg herüber sich ausbreitete. Ein vernünftiger Veredlungsverkehr hob die Zollgrenze fast auf und so entwickelte sich allmählich dieses volkswirtschaftlich eigenartige Verhältnis. Es hat seine Geschichte. Den Schwankungen dieser Industrie suchte man seinerzeit durch einen gemeinschaftlichen, großen Verband etwas die Spitze zu nehmen, doch ging der Versuch einer großen, wirtschaftlichen Vereinigung aller Interessenten, der beide Länder gleichartig verbinden und behandeln sollte, nach einigen Jahren wieder in Brüche; in Zeiten sehr schlechten Geschäftsganges gab es auch hie und da Verstimmungen durch die auf Schweizer Seite hie und da unter dem Schlagworte „Schutz der nationalen Arbeit" erhobene Forderung, die St. Galler Fabrikanten sollen nach Vorarlberg solange keine Ware geben, bis die heimische Arbeiterschaft hinreichend beschäftigt sei. Daß solche Stimmen die Vorarlberger denken machten, ist begreiflich, doch blieben sie bis heute ohne merkliche Folgen. Die Schweizer Arbeitgeber wollten mit der Vorarlberger Arbeiterschaft nicht brechen, einerseits brauchte man sie notwendig bei der erwarteten besseren Marktlage, andererseits hätte größerer und länger andauernder Arbeitsmangel in Vorarlberg fast sicher das Land und seine Unternehmer zu einer kräftigen Aktion bezüglich Selbständigkeit gezwungen. Auch das wollte der große St. Gallner Exporteur vermeiden und so blieben 281 , 43. Beilage zu den stenogr. Berichten des Vorarlberger Landtages. IV. Session der 10. Periode 1911/12. gewisse Beziehungen auch in schlechter Zeit bestehen. Freilich etwas Bedauerliches hatte das Verhältnis immer, ganz seine Ware kam selten nach Vorarlberg, der Schweizer Fabrikant erklärte das mit dem Umstände, daß in Vorarlberg die Arbeiter dafür fehlen; der Vorarlberger Arbeiter aber hatte zu wenig Ansporn, um Wochen seiner Ausbildung und einige hundert Kronen einer präzisen Reparatur seiner Maschine zu widmen, da er dadurch keine entsprechende Verbesserung seiner Lohnverhältnisse erwarten zu dürfen glaubte. So kam es, daß die Vorarl­ berger Maschinenstickerei auf ein verhältnismäßig enges Gebiet der Qualitäten beschränkt blieb. Allmählich aber traten auch in Vorarlberg selbständige Firmen auf, die mit mehr oder weniger Erfolg sich einen Platz auf dem Weltmärkte verschafft haben. Doch auch heute noch arbeitet der größere Teil unserer Maschinen für den St. Galler Markt und wir haben die Merkwürdigkeit, daß auf dem österreichischen Markte ziemlich viele Schweizer Firmen beschäftigt sind. Die meisten „Schweizer Stickereien", die tatsächlich von echten Schweizerfirmen für Österreich geliefert werden, haben die Schweiz nie gesehen, sie werden in Vorarlberg kauffähig hergestellt und nur der Reingewinn bleibt den Nachbarn. Das soll erwähnt sein, um damit auch den Werdegang insbesondere der Ketten st ichstickerei im Lande zu beleuchten. Diese Hausindustrie steht heute noch genau dort, wo die Maschinen-Stickerei in den ersten 2 Jahrzehnten war. Sie bezieht ihre Arbeit fast ausschließlich von der Schweiz. Trotzdem kein Land nur annähernd soviel Maschinen besitzt wie Vorarlberg, hat es fast keine selbständigen Unternehmer. Es ist im Bregenzerwald eine nennenswerte Firma in Bezau, daneben noch einige kleinere Unternehmer, die aber alle zusammen einen verhältnismäßig geringen Teil der Gesamtproduktion benötigen. Eine größere Wiener Firma, die vor Jahren in Dornbirn plaziert war, gibt heute regelmäßig größere Aufträge. So ist denn heute die Vorarlberger Kettenstichstickerei fast ganz an die Schweiz angewiesen, allerdings auch umgekehrt, da der Schweizer Fabrikant und Exporteur nirgendwo außer Vorarlberg genügende Arbeitskräfte zur Verfügung hat. An und für sich ein günstiger Umstand, daß beide Teile auf einander angewiesen sind und nicht etwa bloß der eine, die Arbeiterschaft, auf den anderen. Sanierungspläne lassen sich in solchen Fällen leichter durchführen. Freilich dürfen wir bei dieser Gelegenheit einige Erscheinungen nicht unbesprochen lassen, die doch für den Vorarlberger bedenklich sind. Vor Jahren suchte der Tiroler Pellagrafonds für die Südtiroler Bevölkerung Arbeit und plante die Einführung einer Hausindustrie; dabei entschied man sich für die Kettenstichstickerei. Sie ging damals im Lande ziemlich gut, die Leute hatten noch bessere Löhne als heute. Das lockte an. Der Pellagrafonds wandte sich an Schweizerfirmen und auch an einen Vorarlberger Unternehmer. Von unserem Standpunkte aus muß bedauert werden, daß damals diese Pläne eines anderen Landes unterstützt wurden, ja es ging soweit, daß tüchtige Stickerinnen des Bregenzerwaldes nach Südtirol gingen, um dort Unterricht in der Kettenstich­ stickerei zu geben, und während der Bregenzerwald durchaus nicht voll beschäftigt war, sandte man Aufträge an die junge Hausindustrie in Südtirol, alles das nur deshalb, weil dort billiger gearbeitet wurde, wie es bei jeder Neueinführung in einem industriearmen Lande ist. So ging es einige Zeit, ein Umstand, der auch beitrug, die Lohnverhältniffe bei uns zu drücken. 43. Beilage zu den stenogr. Berichten des Vorarlberger Landtages. IV. Session der 10. Periode 1911/12 Plötzlich kam die Meldung, daß der Pellagrafonds seine Gründung an eine Wiener Firma verkauft und unter sehr günstigen Bedingungen übergeben habe. Bald darauf hörte man von St. Gallen, daß die dortigen Industriellen beschlossen hätten, nach Südtirol keine Arbeit mehr zu geben. Das war an und für sich für uns erfreulich, doch kam gleichzeitig auch die Kunde, daß die St. Galler Unternehmer daran dächten, in verschiedenen Schweizergebieten diese Hausindustrie einzuführen. Dieser Gedanke war entstanden in unmittelbarem Zusammen­ hange mit den Erfahrungen, welche man im Südtirol gemacht hatte; man wolle sich nicht der Gefahr weiterhin aussetzen, daß Arbeitsgebiete vom St. Gallner Platze abfallen und daß dieser dann plötzlich unter einem fühlbaren Arbeitermangel leiden würde; die Enttäuschung war um so größer, als man auf Südtirol nicht unbedeutende Hoffnungen gesetzt und dafür auch Opfer gebracht hatte. Daß diese Furcht aufkommen konnte, ist an und für sich begreiflich, doch ist sie für die Vorarlberger Industrie und diejenigen, welche für sie auch zu sorgen haben, doch eine ernste Mahnung auf der Hut zu sein. Unmittelbar vor Veröffentlichung des Berichtes kommt aus der Schweiz die Kunde, die dortigen Fabrikanten hätten bereits begonnen, ihre Absicht durchzuführen, indem sie im Gebiete von Einsiedeln bereits Maschinen einführten. Freilich darf auch die Klage größerer Industrieller nicht unerwähnt bleiben, daß sie manchmal bei großen Aufträgen in Verlegenheit sind, diese auszuführen, da zeitweilig viele Stickerinnen sich der Landwirtschaft widmen und infolgedessen bedauerliche Stockungen und Schwierigkeiten im Geschäfts­ gänge eintreten. Eine Ursache dieser Klage sind auch die leidigen Verhältnisse im Ferggerwesen. Fast als Kuriosität mag hier auch vermerkt werden, daß noch vor etwa zwei Jahren ein Unternehmer einem Vertreter der Statthalterei in Innsbruck gegenüber, die für einige Nordtiroler Gebiete sich um Hausindustrie bemüht, erklärte, er könnte noch einige Kettenstich­ maschinen in Tirol sehr wohl beschäftigen — zu einer Zeit, wo in Vorarlberg manche Maschinen ganz stille stehen und die meisten armseligen Lohn verdienen. Der Mann scheint gehofft zu haben, in Tirol noch billigere Arbeitskräfte zu sinden. Der Verkehr zwischen dem St. Gallner Unternehmer und der Arbeiterschaft wird meistens durch die Fergger vermittelt, über die wir noch später zu sprechen kommen, wie auch über die Arbeitgeber selbst. Die Nachstickerei ist eine Hilfsindustrie der Maschinenstickerei überall dort im Lande, wo Hand- und Schiffchenmaschinen sind. Besonders die letzteren beschäftigen viele Kräfte, da die Quantität der Produktion sehr groß ist. In vielen Familien wird die eigne Ware auch selbst nachgestickt. Steht dem Sticker diese Hilfe nicht zur Verfügung, so muß er die Ware außer Haus nachsticken lassen. In den Orten mit vielen Maschinen sind meist nicht genügend Nachstickerinnen vorhanden, so daß die Ware daher unnachgestickt in die Schweiz geht. Der dortige Unternehmer läßt sie dann nachsticken und macht dem Sticker hiefür einen Abzug, der aber viel höher ist, als wenn er auf eigene Rechnung hätte nachsticken lassen können. Der Bregenzerwald hätte überschüssige Kräfte, die nachsticken können, oder mit wenig Mühe es leicht lernen würden. Für sie aber liefern die wenigen Maschinen des Bregenzerwaldes zu wenig Ware. Interessant ist nun, daß während auf der einen Seite Vorarlberger Ware in der Schweiz zu hohen Preisen nachgestickt wird, auf der anderen Seite die große Rorschacher Firma Feldmühle große Quantitäten von Stickereien in den Bregenzerwald schickt, 283 43. Beilage zu den stenogr. Berichten des Vorarlberger Landtages. IV. Session der 10. Periode 1911 /12 um sie dort nachsticken zu lassen. Sie hat dieses Gebiet entdeckt und in richtiger Weise ausgenützt. Hinsichtlich der Vorarlberger Ware liegt hier sicher ein volkswirtschaftlicher Fehler vor, dessen Ursache der Mangel an Organisation ist und dann wohl auch zum Teil Bequemlichkeit und Hilflosigkeit einzelner Faktoren. Der einzelne Sticker kann natürlich nicht die Verbindung mit dem Bregenzerwalde herstellen, es müßte ein größerer Kreis es tun, mehrere Fergger zusammen oder Unternehmer könnten natürlich genau wie die Feldmühle ein solches Projekt verwirklichen, aber es gibt für den Fergger doch einige Mühe und die Abzüge für Nachsticken hat der Sticker ja selbst zu tragen und so ist zu wenig Interesse vorhanden, diesen Verkehr zwischen einem Gebiet mit Arbeiterüberschuß und einem mit Arbeitermangel herzustellen. Ein Versuch in dieser Richtung scheint nicht gar zu schwierig und auf alle Fälle lohnend. Arbeitgeber. Wie schon bemerkt, sind die Arbeitgeber fast ausschließlich in der Schweiz und können füglich in zwei Gruppen eingeteilt werden. Die einen höher stehend, strebsam, mit vollem Ernste bemüht, die Qualität der Industrie zu heben, die Kunst zur Geltung kommen zu lassen, Spezialitäten einzuführen und auf dem Weltmärkte in der Konkurrenz mit anderen Ländern den ersten Platz zu behaupten. Diese Merkmale darf man auch den wenigen Heimischen, zuschreiben. Diese Klasse finden wir in St. Gallen; daneben eine andere Gruppe, der man alle diese Eigenschaften fast absprechen muß, im Vergleich mit der ersten muß man sie als Schmutzkonkurrenz bezeichnen. Grobe Ware, schlechte Ausführung ohne Verständnis für Feinheiten, ohne künstlerichen Sinn, lediglich spekulierend, durch Billigkeit den strebsamen Konkurrenten aus dem Felde zu schlagen. Während der erstere Fabrikant auf schöne Aus­ führung sieht, gibt der zweite darauf nicht so viel, seine Kundschaft ist nicht so streng, sieht nur auf billige Ware, es sollen Massenartikel sein. Walzenhausen ist ein Hauptort dieser Geschäftsart. Selbstverständlich liegt die Hoffnung unserer Industrie bei der ersten Gruppe, während die zweite als schwere Schädigung bezeichnet werden muß. Ganz abgesehen von der Konkurrenz, welche dem ernsten Unternehmer gemacht wird, der auch einen entsprechenden Lohn zahlen will, wird der Artikel überhaupt auf dem Markte in Verruf gebracht und findet in manchem Hause keine Aufnahme, weil er eben als Pofel viel gesehen wird, und findet infolge­ dessen auch bei feiner Ausführung so manche Türe verschlossen. Dabei darf wohl gesagt werden, daß diese zweite Gruppe auch viel beigetragen hat, um die Qualitätsleistung unserer Vorarlberger Stickerinnen herabzusetzen; nur viel Ware, schöne Ausführung ganz Nebensache, keine Abzüge, dabei wohl weniger Lohn. Gleichgültigkeit und schlechte Leistungen wurden so in unserem früher ernsteren Arbeitsgebiete eingeführt. Die erste Gruppe zeigt genügendes Verständnis für die gegenwärtige Situation unserer Vorarlberger Stickerei; sie will dieses Gebiet in seiner Arbeitsleistung möglichst in die Höhe bringen, ist nicht abgeneigt, ernste Bestrebungen in dieser Beziehung zu unterstützen, ist auch bereit, in dem Hauptkapitel, als der Voraussetzung, um etwas zu erzielen, in der Lohnfrage, der Arbeiterin entgegen zu kommen; mit ihr darf aufrichtig gerechnet werden. Bezüglich der zweiten Gruppe aber fehlt uns jede diesbezügliche Hoffnung und es wäre wohl ein Glück, wenn diese Arbeitgeber im Lande keine Arbeitskräfte mehr unter den bisherigen Bedingungen finden würden. Die Unternehmer dieser Kategorie machen persönlich durchaus etwa nicht große 284 43. Beilage zu den stenogr. Berichten des Vorarlberger Landtages. IV. Session der 10. Periode 1911/12. Gewinne, diese heimsen einige St. Gallner Exporteure ein, denen es ganz gleichgültig ist, ob sie ernsten Bestrebungen den Weg versperren. Die erste Gruppe arbeitet hauptsächlich mit dem Bregenzerwalde, einigen Gemeinden des Ober- und Hinterlandes. Die zweite Gruppe liefert in einigen Rheintalgemeinden, ist aber auch im Bregenzerwald und Montafon vertreten und ist leider so stark, daß wir manche bedauerliche Erscheinung in der Gesamtindustrie ihr zuschreiben müssen. Möglich war dies freilich nur dadurch, daß sie mit der Entartung des Ferggerwesens, die sie verursachte, genügend Vermittler fand. Fergger. Der Fergger ist der Vermittler zwischen dem Arbeitgeber und unserer Arbeiterschaft. _ Es ist begreiflich, daß sich gerade in dieser Hausindustrie das Ferggerwesen stark entwickelte und in allen seinen Erscheinungsformen ausleben konnte. Wir finden fast alle Kategorien der Ferggerei, die richtige, ordentlich geführte, wo der Mann regelmäßig nach St. Gallen geht, mit bestimmten Firmen im Geschäftsverkehre steht, bei Übernahme der Ware genau auch darauf sieht, daß er entsprechenden Lohn bezahlen kann, den auch bezahlen will, der die Arbeitskräfte kennt, die ihm zur Verfügung stehen, für die guten feine Ware, für andere leichtere übernimmt, der zu Hause mit Fleiß ordentliche Buchführung hält und der zwar für sich die verdiente Provision nimmt, aber auch der Stickerin zahlt, was ihr gehört, und diese dem Unternehmer gegenüber so vertritt, als wie seine eigenen Interessen.Solche Fergger gab es und gibt es noch einige, aber allmählich wurde ihr Geschäft doch sehrgeschwächt durch das Auftreten unsolider Konkurrenten, Leute, welche einen Beruf ausgeben wollten oder mußten, singen an zu ferggen, übernahmen Ware, die sie bei gutem Geschäftsgänge nicht unschwer bekommen, und suchen dabei die Stickerinnen dem anderen Fergger abivendig zu machen mit allen möglichen Versprechungen. Abzugsfrei — oder man ködert sie, indem man ihr einigemal schönere Ware gibt und auch sogar Vorschuß; dadurch wird natürlich die Stellung des anständigen Ferggers sehr erschwert und allmählich werden so die Zustände direkt unsolid. Dabei wurde natürlich auch die Arbeiterin verdorben, nur der kleinere Teil hat Verständnis dafür, daß das Festhalten an einem ordentlichen Fergger trotz verlockender Angebote andererseits schließlich doch das beste sei, und so klagen viele Fergger über die Unsicherheit und über die Schwierigkeit, das Geschäft in solider Weise führen zu können. Begreiflicherweise gab es auch hier grobe Fälle von Ausbeutung, die Lohnberechnung ist schwierig und sehr schwankend, man kann hier nicht wie bei der Maschinenstickerei nach Stichen berechnen, sondern meistens nach dem Garnverbrauch. Bis in die letzte Zeit herauf bestand kein einheitliches Maß für die Größe eines „Strängen" und so gab es Übervorteilungen, Mißtrauen und manchmal mögen auch die Stickerinnen nicht frei zu sprechen sein, ihrerseits auf unrechte Art Vorteile gesucht zu haben. Das Ferggergeschäst galt als einträglich und so wandten sich immer mehr Leute ihm zu, Leute, die von der Industrie wenig, vom Markte gar nichts verstehen, gingen nach der Schweiz und suchten auf alle Fälle Ware zu bekommen, bekamen sie aber unter schlechteren Bedingungen als der kundige alte Fergger. Zu Hause suchte man Stickerinnen, die man dem anderen wegnahm, dabei verdienten beide nicht viel; es gibt Personen die nach der Schweiz ferggen und die außer den Spesen nur einen bescheidenen Taglohn bekommen. Wenn sie dann gar noch für einen Unternehmer der oben erwähnten zweiten 285 43. Beilage zu den ftenogr. Berichten des Vorarlberger Landtages. IV. Session der 10. Periode 1911/12. Gruppe liefern, dann ist das Malheur da. Durch die Verwilderung und gerade durch das unsolide Wesen in der Ferggerei ist es dieser zweiten Gruppe der Fabrikanten gelungen, sich in Vorarlberg einzunisten. Ein gesunder Ferggerstand hätte diese Schmarotzer fern gehalten, eine in dem Ferggerwesen kranke Hausindustrie war nicht stark genug, diesen zudringlichen Bazillus abzuwehren. Heute sind wohl zu viele Fergger und Ferggerinnen. Weniger würden leicht genügen, um alle zu versorgen, und eint Hebung der Industrie ist kaum möglich, ohne auch diesen Kreis zu sanieren dadurch, daß geschäftsunkundige und unsolide Elemente ausscheiden. Solide und fachmäßige Ferggereien aber werden an der Hebung der Industrie aus eigenem Interesse mitarbeiten und werden auch der Stickerin den entsprechenden Lohn auszahlen wollen. Das Beste wäre wohl ein festes Vertragsverhältnis, das dem Fergger die Arbeitskräfte und der Arbeiterin einen bestimmten Lohn sichert. Die Verteilung im Lande. Wichtig ist auch die Frage, wie die Kettenstichstickmaschinen verteilt sind. Genaue Erhebungen stehen nicht zur Verfügungvielleicht daß die letzte Volkszählung Material liefert, doch ist es nicht unschwer, die bedeutendsten Gemeinden mit großer Maschinenzahl aufzuzählen. Am meisten Maschinen dürfte Alberschwende haben mit zirka 300, dann folgen Hittisau, Bezau, Au und Schoppernau, Sulzberg, Riefensberg, Doren, Schwarzenberg, Krumbach, Buch, Egg mit über 100 Maschinen, ihnen folgen die übrigen Gemeinden des Bregenzerwaldes, die durchschnittlich 50 — 70 Maschinen aus­ weisen. Im Rheintal hat fast jede Gemeinde einige Maschinen. Die Mehrzahl 15—30, darüber Meiningen, Fraxern, Zwischenwasser. Ähnlich liegen die Verhältnisse im Hinterland, wo Bartholomäberg mit 40 Maschinen vorausgeht. Fast gleichmäßig verteilt sind die Spachtlerinnen, so daß auf 3—5 Maschinen eine Person mit Spachteln beschäftigt ist. Insbesondere im Bregenzerwald treffen wir daneben wenigstens 300 Feinstickerinnen. Während im Sommer ein großer Teil der Maschinen durch einige Wochen und auch Monate ruht, müssen wir diesen Winter neuerlich die Beobachtung machen, daß ein beachtens­ werter Teil der Maschinen stille steht wegen der Lohnverhältnisse. Die Nachstickerinnen sind überall dort, wo Maschinenstickerei ist, einen Überschuß weist nur der Bregenzerwald auf. Die Handnachstickerinnen, welche im Rheintal stark fehlen, trifft man in genügender Zahl ebenfalls im Bregenzerwalde. Lohnverhältnisse. Die Lohnverhältnisse sind schwer krank und eine gründliche Besserung braucht Zeit, Geduld und auch feste« Willen. Während man in fast gar allen Industriezweigen heute doch besser entlohnt als vor 20—30 Jahren, so sind im Gegenteile bei der Kettenstichstickerei die Löhne heute durchwegs schlechter. Bei steißiger Tagesarbeit ist der Durchschnittslohn für grobe Ware K 1-—, für mittlere K 1 20—1 40, nur feine Ware 286 43. Beilage zu den stenogr. Berichten des Borarlberger Landtages. IV. Zession der 10. Periode 1911/12. bringt K 2 — und Spezialitäten K 2 40. Wenn man bedenkt, daß für Arbeit, welche früher K 2-— bezahlt erhielt, heute K 1-— bis 1 20 geboten wird, begreift man den Mißmut und die Verdrosfenheit der Arbeiterinnen. Bei den oben geschilderten Verhältnissen ist es der Stickerin schwer, sich zur feineren Arbeiterin herauszuarbeiten. Durch überstunden sucht man den Taglohn zu verbessern, was natürlich vorn gesundheitlichen Standpunkte aus zu bedauern ist. Man wechselt den Fergger, wechselt den Artikel und probiert das eine, versucht das andere und schließlich alles ohne Erfolg. In diesen Lohnverhältnissen liegt vor allem die Ursache der verschiedenen Übel stände. Wer das Übel da packt, der hat die Krankheit richtig erkannt und wer dafür das richtige Rezept verschreibt, hilft dem Patienten. Eine Folge der sinkenden Löhne ist die Tatsache, daß schon mehr als früher Mädchen in die Fremde ziehen, um dort ihr Brot zu verdienen, und in neuester Zeit denkt man an Einführung von hierzulande neuartigen Hausindustrien. Bei Thal soll eine Strohhutfabrik errichtet werden und für Egg sammelt man zum gleichen Zwecke Aktien. Möglich, daß eine Strohhutfabrik jenen Erfolg bringt, den die Gründer erwarten, hoffentlich auch genügende Löhne für die damit verbundene Hausindustrie; schließlich sind diese Gründungen zu begrüßen, wenn sie unserer landwirtschaftlichen Bevölkerung das Zusammenbleiben in der Familie erleichtern. Wenn es aber den vereinten Kräften möglich ist, unsere heutige Industrie, die Stickerei, zu heben, dann ist eine möglichst starke, einheitliche und daher auf dem Weltmärkte etwas geltende, ja vielleicht vorherrschende Industrie, wie wir sie einmal hatten, wie wir sie haben könnten, der Vielseitigkeit vorzuziehen. Von besonderer Bedeutung ist nun für uns folgende Tatsache. Während in anderen Industrien bei Bestrebungen nach Lohnverbesserungen meistens die Antwort kommt, daß die Industrie das nicht vertrage, liegt hier der Fall ganz anders. Von ganz berufener Seite wurde dem Berichterstatter erklärt, daß der heutige Markt eine Verbesserung der Arbeitslöhne vertrage, ohne dadurch im geringsten beunruhigt oder geschwächt zu werden. Die ernsten Fabrikanten sehen auch ein, daß die heutigen Löhne für die Stickerinnen zu gering sind; sehen ein, daß in der Fortdauer dieses Zustandes eine Gefahr für die Industrie selbst liegt, indem das Bedürfnis nach Fortbildung mangelt und jenes wichtige Streben, ganz bei der Industrie zu sein und bei ihr zu bleiben, stets mehr geschwächt wird. Ständig sucht das unruhige Auge, ob anderswo etwa bessere Arbeit zu finden wäre. Das schwächt, und die Rückwirkung dieser Verhältnisse, trifft endlich auch den Fabrikanten wie die Arbeiterin, die Wurzel seines Unternehmens. Krankt die Wurzel, so muß das schließlich auch der Stamm und die ganze Verästelung, das Unternehmen auf dem Weltmärkte fühlen. Diese Industriellen wollen an der Verbesserung der Lohnverhältnisse ihren Teil beitragen, doch ist daraus zu achten daß eine bessere Bezahlung ihrerseits wirklich den Stickerinnen zugute kommt und nicht in den uferlosen Ferggereien spurlos und ohne Effekt verschwindet. Ihr Mittun aber in dieser Beziehung verlangt noch eine Voraussetzung, daß nämlich auch die Konkurrenz dieselben Löhne bezahlen muß. Bei dieser Haltung einer kräftigen und maßgebenden Unternehmergruppe ist es nun klar, daß das nächste Wort die Stickerinnen und die Fergger haben, vor allem aber die 287 43. Beilage zu den stenogr. Berichten des Vorarlberger Landtages. IV. Session der 10. Periode 1911/12. Stickerinnen. Das einzige Rezept lautet hier: Verhandlung und ein entsprechender Tarif­ vertrag mit Minimallöhnen, an den sich die Fergger und Stickerinnen unbedingt halten; der den Fabrikanten bekannt ist und von ihnen als Grundlage für ihre Abrechnung mit dem Fergger akzeptiert wird. Dadurch wären alle Unternehmer zu einer gewissen Ordnung gezwungen und neben den Vorteilen für die Stickerinnen würde ein derartiger Tarifvertrag die wohltätige Folge haben, daß unter den Ferggern die ordentlichen Elemente wieder Oberwasser bekommen und daß auch auf dem großen Markte der ernste Unternehmer wieder festen Boden unter den Füßen hat. Diese wichtige Frage ist eine der ersten Aufgaben einer Stickerinnenorganisation. Es ist eine Frage der Selbsthilfe und so wie die Verhältnisse heute liegen, steht zu erwarten, daß ein derartiger Tarifvertrag ohne jedes harte Wort, im Gegenteil bei gutem gegenseitigen Einvernehmen zum Abschlüsse kommt. Sind doch alle Teile auf einander angewiesen und alle leiden in gleicher Weise unter dem langsamen Zerfalle unserer Industrie. Bezüglich der Löhne der Nachstickerinnen mag folgendes vermerkt sein. Handnachstickerinnen, welche nur wenige Stunden im Tage nebenher und meist nur mittelmäßig arbeiten, erhalten pro Stunde 12—14 Heller. Gute Nachstickerinnen mit der Maschine 20—30 Heller. Die ersteren Löhne sollten eine Verbesserung erfahren unter der Voraussetzung einer vollkommeneren Leistung und wahrheitsgetreuen Angabe der Arbeitsstunden. Unterricht und Ausbildung. Unterricht und Ausbildung erfolgen in den der Hausindustrie eigentümlichen Formen; zuweilen durch den Fergger, der Maschinen einzuführen sucht und einen bescheidenen Unterricht gibt, was hie und da auch durch den Maschinenhändler geschieht. Will der Fergger feinere Ware einführen, so sucht er tüchtigere Stickerinnen zu bewegen, die neue Stickart zu lernen, sei es bei einer Nachbarin oder bei einer Stickerin, die er selbst zur Verfügung stellt. Meist erfolgt der erste Unterricht aber in der Familie oder durch Bekannte; in den meisten Häusern hat das Schulmädchen schon Gelegenheit, die Kettenstickerin genügend beobachten zu können. Es weiß, daß es nach Erfüllung der Schulpflicht an die Maschine tritt, und da hängt es dann besonders von Fleiß und Strebsamkeit ab, ob die Anfängerin mit allem Ernste sucht sich auszubilden; dabei spricht natürlich der Umstand viel mit, ob in dem Heimatdorf noch andere tüchtige Stickerinnen sind, und ob ein Fergger feinere Ware bei besserem Lohn liefert; das regt natürlich an und zwar so, daß diese Umstände fast als Maßstab gelten können. So kann man die einzelnen Orte, ja sogar Täler ziemlich genau qualifizieren je nach den Ferggerverhältnissen, dem Volkscharakter und damit zusammenhängend einer fachlichen Tradition. In fast allen Orten, die kräftigere Hausindustrie ausweisen, wurde dem Referenten gesagt, daß die Tätigkeit und auch der Eifer, besonders der jüngeren Arbeiterinnen, im Vergleiche zu früherer Zeit bedeutend zurückgegangen sei. Die galten Stickerinnen seien die besten, der Nachwuchs biete nicht die Hoffnung, zu gleicher Fertigkeit zu gelangen. Ältere Stickerinnen sagen, sie hätten mit größerem Eifer und auch längerOZeiOgelernt, als wie dies heute der Fall sei. Als Hauptursache wird das Sinken des Lohnes bezeichnet, so daß nicht mehr 288 43 Beilage zu den stenogr. Berichten des Vorarlberger Landtages. IV Session der 10. Periode 1911/12. derselbe Ansporn zu tüchtigem Lernen besteht, als wie dies früher der Fall war. Mit den lebhafteren Verkehrsverhältnissen bieten sich der jungen Arbeiterin heute doch mehr Verdienst­ möglichkeiten, freilich meistens fern vom heimatlichen Hause, aber doch schwächt der Umstand das Streben nach einer Ausbildung, von der eine Person sich kaum erhalten kann. DieLohnfrage ist auch hier derGradmesserdesKönnens undStrebens. Aber noch ein anderer charakteristischer Umstand kommt hier in Betracht. Als diese Industrie niederging und viele schlechte Ware ausgegeben wurde, suchte die Stickerin durch hastige Arbeit doch noch möglichst viel zu verdienen. Die tüchtige, gewissenhafte Arbeiterin, die mit sich selbst nur bei guter Leistung zufrieden war, stand nun vor einem „Entweder — Oder": die gute Leistung wurde vielfach genau so entlohnt wie die schlechte und mehrere Stickerinnen erklärten, daß sie auf ihren Vorhalt hin vom Fergger die Antwort bekamen, sie sollen auch schleuderisch arbeiten, man zahle für beides gleichviel und dann würden sie auch mehr verdienen. Solche Zustände mußten eine Industrie demoralisieren und wenn auch der Markt sich hob und gute und schöne Ware ausgegeben werden konnte, so wurde allmählich die Zahl verläßlicher Stickerinnen zu klein. Schöne Dessins wurden schlecht gearbeitet und halfen den Markt verschlechtern; auch der Ruf einzelner Gemeinden, ja einzelner Täler sank tief herab. Noch ein Umstand kommt in Frage: die neue Zeit brachte neue Spezialitäten, deren Ausführung geübte Kräfte voraussetzt. So koinmt es, daß heute der Fabrikant zuweilen in Verlegenheit ist, welchem Fergger er größere Aufträge übergeben soll, und der Fergger wieder ist in Verlegenheit, wer ihm die Arbeit ausführt. In dieser Hinsicht ist es unbedingt notwendig, daß etwas geschieht, und zwar mag hier das gleiche Hilfsmittel dienen, welches in der Maschinenstickerei sich bewährt hat. Es muß ein Wanderunterricht eingeführt werden, , in der Form, daß eine tüchtige Stickerin in den einzelnen Orten in möglichst praktischer Form Unterricht gibt. Ein bescheidener Versuch mit einer erprobten Kraft dürfte bald befriedigende Erfolge zeitigen. Das Bedürfnis ist erfreulicherweise vorhanden und viele Stickerinnen erhoffen davon eine Besserung ihrer bisherigen Lage. Die große Zahl der Nachstick er innen lernt in derselben Art zu Hause diese Arbeit. Seit Jahren besteht an der k. k. Fachschule in Dornbin für dieses Nachsticken der Maschinenware ein guter Wanderunterricht, dem wir schon manche Hebung verdanken; immerhin aber muß bedauert werden, daß unter den Nachstickerinnen den Kursen gegenüber doch noch manche Gleichgültigkeit besteht, unter der natürlich die Sticker und auch die Fabrikanten leiden. In neuester Zeit wurde an der Schule selbst ein Unterricht im Verweben eingeführt und ist zu hoffen, daß in einigen Jahren doch tüchtige Verweberinnen unserer Industrie zur Verfügung stehen. Für diesen Kreis der Stickerinnen wäre also hinreichend gesorgt, höchstens, daß noch auf die Anregung des Landtages von 1910 hingewiesen werden darf, worin ein iveiterer Landesbeitrag zugesichert wird, wenn eine dritte Wanderlehrerin für diesen Arbeitszweig angestellt wird. Maschinen nnd deren Reparatur. ®in I)eiMe§ Äapitet, ba§ ®d)miengfeiten bietet unb meist aud) ©etb forbert. 3)ie 9Met)i%at)l ber 9Rafd)inen stammt au§ ben adliger Satiren. 9Kand)e au§ biefer #ett Wen 289 43. Beilage zu den stenogr. Berichten des Vorarlberger Landtages. IV. Session der 10 Periode 1911/12. schon ausgedient, andere wurden in einzelnen Bestandteilen erneuert. Im allgemeinen hört man allseits Klagen über schlechtes Maschinenmaterial. Manchmal fehlt nur wenig, manchmal ist die Krankheit tieserliegend. Vor allem fehlt ein volles Verständnis für die Maschinen und deren Behandlung. Ein kleiner Fehler, staubige Lager usw. können an der Arbeit sehr schaden, wären leicht zu beheben, aber die Stickerin stndet den Fehler nicht. Ihr hat nie jemand genau die Maschine gezeigt und erklärt. Hier würde es sich um eine leichte Nachhilfe handeln und wir denken daran, daß die im früheren Kapitel gewünschte Wanderlehrerin auch in dieser Hinsicht aufklären würde. Richtige Behandlung der Maschine ist unbedingte Voraussetzung für gute Arbeit. Manchmal tritt ein kleiner Fehler auf, würde er gleich behoben, so handelt es sich um ein Viertelstündchen, arbeitet man aber rücksichtlos weiter, so kann die Reparatur der Maschine später viel Zeit und Geld kosten. Schwierig ist es nun, wenn die Reparatur einen Mechaniker verlangt. Es sind nur wenige im Lande, solche mit ganz gutem Rufe noch weniger, und wenn die Stickerin nicht gerade am Orte des Mechanikers wohnt, sondern sehr oft weit ab, so bedeutet die Übergabe ihrer Maschine in die Reparatur eine Pause von einigen Wochen. Daß sich gegen ihr eigenes Interesse die Stickerin schwer entschließen kann, die Maschine weg zu geben, kommt halt vor. Man arbeitet weiter, die Arbeit zeigt den Maschinenfehler und die Maschine selbst wird immer schlechter. Die schlechten Lohnverhältnisse tragen natürlich auch dazu bei, Reparaturkosten möglichst weit hinauszuschieben. Hier einzugreifen ist nicht ganz einfach. Vor allem ist zu erwarten, daß von einer Unterrichtsperson manches aufgeklärt und verbessert wird; es könnten die wichtigsten Maschinenbestandteile gemeinschaftlich eingekauft und zum Selbstkostenpreise abgegeben werden; nach gründlicherer Beobachtung dieser Frage wird es in einem späteren Zeitpunkte wohl möglich, der Monteurfrage näher zu treten; vielleicht würde ein Erfolg auch auf dem Wege möglich sein, daß mehrere Stickerinnen eines Ortes zusammen von einem Meister einen tüchtigen Gehilfen in ihren Ort geschickt bekommen. Das ist schließlich eine Sache der Organisation; eines allein kann da nichts machen. Seitens der Fabrikanten wird am meisten über das „Durchschlagen" des Tülls geklagt; es beruht auf einem manchmal leicht zu behebenden Maschinenfehler. Besonders mißlich ist dabei der Umstand, daß das Durchschlagen des Stoffes im rohen Zustande nicht beobachtet wird, und erst nach der Bleiche bemerkt werden kann. Große Summen müssen alle Jahre nur daraus verwendet werden, diesen Fehler mit mühsamem Nachsticken halbwegs wieder gutzumachen. Eine Sticklehrerin müßte gerade darauf also ^besonders ihr Augen­ merk richten. Organisation. Von den drei Faktoren jdieser^ Hausindustrie sind 'nur die Schweizer Unternehmer organisiert; einzelne Fergger mögen unter einander Beziehungen aufrecht halten, bei den Stickerinnen fehlt jede Spur, eher daß sie mit Eifersucht achtgeben, ob nicht eine andere etwa einige Heller mehr verdient, eine gewöhnliche Erscheinung der^HausindustrieJ ^Die Maschinenstickerei ist ein Gewerbe und die gesetzliche Vorschrift der Genossenschaftsbildung mahnte ihre Mitglieder zur Organisation; auch war mit den Genossenschaften doch eine Instanz 290 43. Beilage zu den stenogr. Berichten des Vorarlberger Landtages. IV. Session der 10. Periode 1911/12. geschaffen, welche zur Vertretung der Interessen und auch zur Inanspruchnahme staatlicher Unterstützungen geeignet war und gute Dienste leistete. Die Stickerinnen gehören keinem Gewerbe an, sie bilden die eigentlichste Hausindustrie. Wenn nun aber auch das Gesetz keine Organisation für diese kennt, so können wir bei den Erfahrungen unserer Zeit doch sagen, daß diese Kreise fast noch mehr als die übrige Arbeiterschaft eine Organisation notwendig brauchen. Die Lage der Vorarlberger Stickerinnen mit Ausnahme der Nachstickerinnen muß als ungünstig bezeichnet werden und eine Besserung kann nur eintreten, wenn Land und Staat einerseits helfen und auf der anderen Seite die Stickerinnen selbst wollen und selbst mitarbeiten. Der Helfer muß wünschen, daß eine Organisation klar und deutlich hinweist, wo Hilfe not tut, und eine Organisation selbst wieder kann die Stickerinnen dazu bringen, alle Hilfsmittel zu ergreifen, die ihrerseits möglich sind. Der Referent hat daher anläßlich der verschiedenen Beratungen den Stickerinnen den Rat erteilt, eine solche Organisation zu gründen, und mit Befriedigung darf vermerkt werden, daß der erste Schritt bereits erfolgt ist und sich eine größere Anzahl Stickerinnen als Mitglieder zum „Bund der Vorarlberger Stickerinnen" bereits angemeldet hat. Zweck des Bundes ist: „Die Stickerinnen des Landes Vorarlberg in diestr Vereinigung zu sammeln, um gemeinschaftlich günstigere Arbeits­ verhältnisse zu erzielen und durch gegenseitige Unterstützung alle Hilfsmittel zu ergreifen, um Lohn und Arbeitsleistung möglichst zu verbessern, sowie in den wichtigsten, weiblichen Berufs­ arbeiten sich auszubilden." Wenn es gelingt, die überwiegende Mehrzahl der Stickerinnen hier zu sammeln, dann steht zu erwarten, daß seitens der Organisation alles getan wird, um eine einstens blühende Hausindustrie zum Wohle des Landes wieder in die Höhe zubringen. Eine Unterstützung des Bundes der Vorarlberger Stickerinnen durch hiezu berufene Faktoren ist jedenfalls wünschenswert. Zweckmäßig erscheint es gewiß auch, daß in gleicher Weise die Fergger der Kettenstich­ stickerei sich vereinigen. Die Aussicht auf einen Erfolg ist erst dann ganz vorhanden, wenn die Stickerinnen durch ihre Vertretung mit der Organisation der Fergger in ernster, bindender und den beiderseitigem Rechtsstandpunkt anerkennender Weise mit einander verkehren können. Der solide Fergger muß das begrüßen und die unsoliden verschwinden besser zum Wohl beider Teile. Marktverhältnisse. Der Markt für alle Arbeiten unserer Stickerinnen darf im allgemeinen als gut bezeichnet werden. Der Bedarf an Stickereien wächst überhaupt in großen Prozenten. Zuweilen lagern in St. Gallen mehr Aufträge, als die Fergger übernehmen können. Freilich alles unter den im Berichte geschilderten Zuständen. Die Technik, die Mode und die Kunst bringen immer wieder Neuigkeiten, und schon haben wir eine reiche Skala von der groben Stoffstickerei bis hinauf zum zarten Tüll, der mit fertiger Stickerei 4 oder 5 verschiedene Arbeiten ausweist. Besonders im Bregenzerwalde finden diese Spezialitäten noch kundige Hände, würde die Zahl der qualifizierten Arbeiterinnen zunehmen, so wäre zweifellos für alle diese besser bezahlte Arbeit leicht zu haben, aber in manchen Gebieten besteht keine Möglichkeit, aus dem Mittelmaß 291 43. Beilage zu den stenogr. Berichten des Vorarrlbeger Landtages. IV. Session der 10. Periode 1911/12 herauszukommen, außer durch eine Wanderlehrerin, die in das Gebiet mit neuen Techniken kommt. Wiederholt wurde erwähnt, daß der Markt unter einer Schleuderkonkurrenz naiürlich sehr leidet und man kann zuweilen in Großstädten Kettensticharbeiten sehen mit einem so niedrigen Preise, daß man begreift, daß da die Stickerin mitsamt dem Fergger nur wenig verdient; dabei sehr schlechte Ausführung, so daß das Ausstellungsobjekt dieser Industrie keine Ehre macht. Die Ziffern des schweizerischen Exports an Kettenstichware und ein Vergleich der Zahlen der in den einzelnen Ländern plazierten Kettenstichmaschinen läßt uns einigermaßen vermuten, welche Bedeutung heute Vorarlberg noch für diesen Markt hat. Wenn Vorarlberg das Seine tut, um diese Industrie auf der Höhe zu erhalten, dann kann neben ihm keiner auf­ kommen, weil es mit einer vieljährigen Industrie, mit einer gesunden Tradition und einem fleißigen Volke allen voraus einen bedeutenden Vorsprung hat, den nicht leicht jemand einholen kann; bleiben wir aber zurück und sind ivir den Erfahrungen des letzten Jahrzehntes gegenüber gleichgültig, dann werden wir eines Tages die Erfahrung machen, daß diese Industrie inzwischen anderswo neu eingeführt wurde, dort ihre Leute ernährt, sich von unserem Lande immer mehr und mehr abwendet, um nicht mehr hieher zurückkehren zu können. Diese Gefahr und diese Möglichkeit ist gegeben, weil das Land eigene, kräftige und markt­ fähige Unternehmer in größerer Zahl nicht hat und die Lage unserer Kettenstichstickerei Über­ siedlungen begünstigt, wenn wir nicht eine kräftige Wendung nach aufwärts herbeizuführen im Stande sind. Schlußwort. Es ist das erstemal, daß mit diesem Berichte die wirtschaftliche Lage der Stickerinnen unserer Hausindustrie beleuchtet wird. Von dem gesammelten Material blieb vieles unbesprochen, um nicht durch zu viele Einzelheiten den Gesamteindruck zu schwächen; einem späteren Zeitpunkt mag die Detaillierung vorbehalten bleiben. Der Berichterstatter ist nicht der Meinung, daß mit einem Schlage, mit einem Medikamente alles besser werden könnte; das wirkliche Leben lehrt und mahnt ganz anders; wenn er aber dem hohen Landtage und der Öffentlichkeit die Sache der Kettenstickerinnen wärmstens empfiehlt, so glaubt er in seinem Berichte hinreichend Gründe hiefür gebracht zu haben. Zunächst empfiehlt der Landesausschußreferent dem hohen Landtage, einen Versuch zu machen mit einer Wanderlehrerin. Die Erfahrungen einer Wanderlehre werden für die Zukunft manchen brauchbaren Wink geben und dann aber darf wohl auch die Unterstützung der Organisation dieser Stickerinnen empfohlen werden, da eine solche Hilfe ebenso begründet ist, wie viele andere Wohltaten, welche unser Landtag jährlich spendet. Dr es ooti I N. Zcir.td) in Brcycnz. 292